Auszug aus dem Buch Eine neue Ethik für die Welt von Scott Peck (München 1995) über die 4 Phasen der Gemeinschaftsbildung.
„Das verbreitetste Anfangsstadium und einzige Stadium vieler Gemeinschaften, Gruppen und Organisationen ist das der Pseudogemeinschaft, ein Stadium der Vortäuschung und des Scheins. Die Gruppe tut so, als sei sie bereits eine Gemeinschaft, als gäbe es unter den Gruppenmitgliedern nur oberflächliche, individuelle Differenzen und kein Grund für Konflikte. Zur Aufrechterhaltung dieser Vortäuschung bedient man sich vor allem einer Anzahl unausgesprochener allgemeingültiger Verhaltensregeln, Manieren genannt: Wir sollen unser Bestes tun, um nichts zu sagen, was einen anderen Menschen verstören oder anfeinden könnte; wenn jemand anderes etwas sagt, das uns beleidigt oder schmerzliche Gefühle oder Erinnerungen in uns weckt, dann sollen wir so tun, als mache es uns nicht das geringste aus; und wenn Meinungsverschiedenheiten oder andere unangenehme Dinge auftauchen, dann sollten wir sofort das Thema wechseln. Jede gute Gastgeberin kennt diese Regeln. Sie mögen den reibungslosen Ablauf einer Dinnerparty ermöglichen, aber mehr auch nicht. Die Kommunikation in der Pseudogemeinschaft läuft über Verallgemeinerungen ab. Sie ist höflich, unauthentisch, langweilig, steril und unproduktiv.
Mit der Zeit können dann allmählich tiefgehende individuelle Differenzen auftreten, und die Gruppe begibt sich ins Stadium des Chaos und zerstört sich nicht selten selbst. Bei der Pseudogemeinschaft geht es um das Kaschieren von individuellen Differenzen. Im Stadium des Chaos geht es vorrangig um den Versuch, diese Differenzen auszulöschen. Das geschieht darüber, dass Gruppenmitglieder versuchen, einander zu bekehren, zu heilen, auszuschalten oder ansonsten für vereinfachte organisatorische Regeln einzutreten. Es ist ein ärgerlicher und irritierender, gedankenloser, maschinengewehrmäßiger und oft lärmender Prozess, bei dem es nur um Sieger und Verlierer geht und der zu nichts führt. Wenn die Gruppe diese unerfreuliche Situation durchstehen kann, ohne sich selbst zu zerstören oder in die Pseudogemeinschaft zurückzufallen, dann tritt sie allmählich in die „Leere“ ein. Dies ist ein Stadium sehr, sehr harter Arbeit, eine Zeit, in der die Mitglieder daran arbeiten, alles beiseite zu räumen, was zwischen ihnen und der Gemeinschaft steht. Und das ist eine Menge. Vieles von dem, was mit Integrität aufgegeben und geopfert werden muss, sind universell menschliche Eigenschaften: Vorurteile, vorschnelle Urteile, starre Erwartungen, der Wunsch zu bekehren, zu heilen oder auszuschalten, der Drang zu siegen, die Angst, sich zum Narren zu machen, das Bedürfnis, die Kontrolle über alles zu haben. Andere Dinge mögen ausgesprochen persönlicher Art sein: ein verborgener Kummer, Abscheu oder tiefe Angst vor etwas, die öffentlich eingestanden werden müssen, bevor das Individuum für die Gruppe völlig „präsent“ sein kann. Es ist eine Zeit, die Risikobereitschaft und Mut verlangt, und wenn man sich auch oft erleichtert fühlt, so fühlt man sich doch oft auch sterbenselend.
Der Übergang von Chaos zur Leere läuft selten dramatisch ab und dauert häufig qualvoll lange. Ein oder zwei Gruppenmitglieder gehen vielleicht das Risiko ein, ihre Seele bloßzulegen, nur um zu erleben, dass ein anderes, das den Schmerz nicht ertragen kann, plötzlich das Thema zu irgendetwas völlig Unsinnigem wechselt. Die Gruppe als Ganzes ist noch nicht offen genug, um wirklich zuzuhören. Sie fällt in das zeitweilige Chaos zurück. Schließlich aber wird sie doch so leer, dass eine Art Wunder geschehen kann.
An diesem Punkt spricht ein Mitglied sehr präzise und authentisch etwas an. Die Gruppe scheut nicht davor zurück, sondern sitzt schweigend da und nimmt alles in sich auf. Dann sagt ein zweites Mitglied ganz ruhig etwas ebenso Authentisches. Es handelt sich vielleicht nicht einmal um eine Antwort auf das erste Mitglied, aber man hat auch nicht das Gefühl, es ist ignoriert worden. Vielmehr herrscht eher die Empfindung vor, das zweite Mitglied sei vorgetreten und habe sich neben dem ersten auf den Altar gelegt. Wieder kehrt Stille ein, aus der heraus sich ein drittes Mitglied ebenso präzise und eloquent äußert. Die Gemeinschaft ist geboren. Der Wechsel zur Gemeinschaft tritt oft sehr plötzlich und dramatisch ein. Die Veränderung ist deutlich zu spüren. Ein Geist des Friedens durchdrängt den ganzen Raum. Es herrscht mehr Schweigen, doch es wird Bedeutungsvolleres gesagt. Es ist wie Musik. Die Menschen arbeiten mit einem präzisen Zeitgefühl zusammen, so als seien sie ein fein eingestimmtes Orchester unter der Leitung eines unsichtbaren himmlischen Dirigenten. Viele spüren tatsächlich die Anwesenheit Gottes im Raum. Handelt es sich um eine Gruppe vormaliger Fremder, die sich in einem öffentlichen Workshop versammelt haben, dann kann man eigentlich nichts weiter tun, als sich an diesem Geschenk freuen. Handelt es sich aber um eine Organisation, dann ist die Gemeinschaft nun bereit, sich oft mit phänomenaler Leistungsfähigkeit und Effektivität an die Arbeit zu machen, also Entscheidungen zu treffen, zu planen, zu verhandeln und so weiter.“
Weitere Beiträge
- Einladung: Lebendige Schwesternschaft – von Frau zu Frau
- Let’s get together!
- Wir sind hier, weil es letztendlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt.
- Echte Gemeinschaft nährt
- Neuer Erfahrungsbericht aus „Kommunizieren in Gemeinschaft“
- Erfahrungsbericht „Kommunizieren in Gemeinschaft“ in Bad Belzig
- Fünf Jahre Beriah Gemeinschaftsbildung
- Erfahrungsbericht „CB-WE-Seminar“ aus Potsdam